I just see what I know, Master Project 2021

betreut von Anja Vormann und Christian Jendreiko

Die Texte und Bilder spiegeln Spaziergänge wider, die im Zuge einer Auseinandersetzung mit der Philosophie Karl Jaspers’ unternommen wurden. Stadtwanderungen werden zu Streifzügen durch die Theorie, zur schrittweisen Anverwandlung der Philosophie … ein subjektiver Blick auf urbane Situationen vermischt sich mit Reflexionen auf philosophische Fragen … Was ist wirklich? Wie weitergehen? Was können Gestalter*innen von dieser Philosophie lernen? Die lose gebundenen Hefte laden ein, situativ in die Spaziergänge einzutauchen, sie zu modifizieren und zu erweitern. Sie regen zu immer wieder neuen Lesarten an. Die Arbeit wird unendliches Projekt.

»I just see what I know« besteht aus 5 Heften mit entnehmbaren Bilderseiten.

Textauszug

[…] Es gibt unterschiedlichste Gründe, warum uns ausgerechnet die Stadt so vehement mit der Frage nach der Wirklichkeit konfrontiert. Wir durchqueren ihre Räume und stellen fest, dass sich die Stadt vielmehr an uns vorbeibewegt, und das in einer Geschwindigkeit, mit der wir niemals mithalten könnten. Wir kehren an Orte zurück, von denen wir meinen, dass wir sie kennen, und erfahren sie wie ausgewechselt. Wir treffen auf Menschen, die zwar dieselbe Stadt, aber eine völlig andere Welt bewohnen, und kommen zu dem Schluss, dass ihre Wirklichkeit nicht nur für uns anders aussieht, sondern dass sie auch in einer anderen Wirklichkeit leben, und dass von einer Wirklichkeit im Singular gar nicht die Rede sein kann. Und zudem zeigt sie uns anhand unendlicher Beispiele auf, wie viele Möglichkeiten wir haben, uns in ihr selbst zu gestalten. Was wir Realität nannten, als etwas, das sich im täglichen Umgang mit ihr als zuverlässig entpuppt hatte, gerät im Angesicht der Stadt ins Wanken.01 Die Stadt ist diffus, zerbrochen, nicht lesbar, Schauplatz der Zusammenkunft unzähliger Realitäten. Als ein Ensemble von Artefakten ist sie überlagert mit Zeichen, die bis ins Unendliche interpretiert werden wollen. Wir sehen »keine Dinge, sondern Figuren von Dingen, die andere Dinge bedeuten«,  schreibt Italo Calvino.02

I just see what I know 1, 2020

In der Hoffnung, dem Flimmern der Eindrücke etwas entgegenzusetzen und hier und da einen Funken Realität erhaschen zu können, entwickeln wir unterschiedliche Strategien, die das Nervenleben nicht entschleunigen, sondern vielmehr kontrolliert steigern sollen.03 Wir suchen nach Kontrasten und Dissonanzen, nach den unangenehmsten Kollisionen im urbanen Gefüge, nach den Abweichungen vom Erwartbaren, denn die harmonisch strukturierte, leicht lesbare Stadt à la Kevin Lynch04 würde uns langweilen.05 Um die Distanz zur Stadt zu verringern, vermeiden wir die Straßenbahnen und mobilisieren unseren Blick fortan nur noch zu Fuß. Der Stadtspaziergang wird zum voyeuristischen Experimentieren mit Wahrnehmungsweisen, das Flanieren zur passiven Teilhabe am Stadtgeschehen. Stadtbilder ziehen wie unendliche Geschichten an uns vorbei, interpretierend durchdringen wir Schicht um Schicht an Bedeutungen, während wir selbst fortwährend und in aller Vielfalt neue Bilder erzeugen. Wir versuchen, in der Situation zu leben, der Realität des Hier und Jetzt, und unsere Gedanken beim intensivsten Wahrnehmen auszuschalten, damit wir unserer Umgebung wirklich gewahr werden und mit ihr verschmelzen können. Wir greifen zur Kamera, um dem ständigen Fluss der Stadtbilder Einhalt zu gebieten und den Lauf der Geschehnisse mittels Fotografie einzufrieren. Der Blick durch die Kamera distanziert uns vom Geschehen, dafür aber erhalten wir neue Stadtbilder, Ausschnitte, durch die wir uns der Realität versichern wollen. 

[…] wenn wir weder den Sinnen noch dem gesunden Menschenverstand noch der Vernunft trauen können, wer sagt uns dann, daß das, was wir Wirklichkeit nennen, nicht nur ein Traum ist?

Hannah ARENDT: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 2019, S. 35

Doch sie entpuppen sich als Farce, als »Manipulation der Realität von solchen Ausmaßen«06, dass wir die Kamera enttäuscht ins Regal zurücklegen wie ein unliebsames Geschenk. Doch wir konnten von ihr einiges lernen; die Konstruiertheit der Fotografien lässt uns erahnen, dass auch unser Blick ein konstruierter ist. Zum einen ist die Wirklichkeit im Wesentlichen eine Geburt unseres Kopfes und wie könnten wir wirklich sagen, ob unsere Wahrnehmungswelt eigentlich glaubwürdig ist? Zum anderen stellen wir fest, dass alles eine Frage der Perspektive ist und das in vielfachem Sinne. Denn wir lernen, dass wir mit unserem Blick spielen können wie mit den Einstellungen eines Objektivs, und dass wir nicht nur wahrnehmen, sondern unsere Wahrnehmungen auch aktiv manipulieren können. Wir können zum Beispiel unsere Umgebung aktiv ästhetisieren, wie wir es auch beim Fotografieren tun und auf diese Weise auch im Marginalsten noch das Pittoreske entdecken. Diese Wahrnehmungsstrategie ist eine selbstgenügsame, da sie um des genussvollen Wahrnehmens willen geschieht, und sie lässt sich steuern.

I just see what I know 5, 2020

Dass sich Wahrnehmungen aktiv hervorbringen lassen, stellen wir auch fest, wenn wir uns mit historischem Kartenmaterial und Stadtgeschichte beschäftigen. Je mehr wir über sie wissen, desto mehr verändert sich die Stadt für uns. Stadtviertel, die zuvor uninteressant waren, werden unter neuen, historischen Gesichtspunkten verzaubert, denn schon entdecken wir überall Überreste alter Mauern, stehen auf mittelalterlichen Märkten und hören die Straßennamen zu uns sprechen. Ähnlich verhält es sich, wenn wir fiktive Literatur als Anlass für einen Stadtspaziergang nehmen; Calvinos unsichtbare Städte regen uns an, in den Spiegelungen der Pfützen die Stadt Valdralda, in den kleinen Türmchen der mittelalterlichen Häuser Diomira, und die Fußgänger*innen in den kleinen Gässchen als Bewohner*innen von Zirma zu erkennen.07 Je nachdem, wie wir die Stadt ansprechen, so antwortet sie uns, bis wir schließlich feststellen, dass sie uns an manchen Orten sogar gänzlich entwischt. Ob wir sie finden, hängt ganz wesentlich davon ab, was wir erwarten, wenn wir nach ihr suchen. Je entschiedener wir versuchen, sie zu fassen, umso weniger Halt kann sie uns geben, desto weiter rückt sie in Distanz. Erbarmungslos lässt sie uns taumeln zwischen Gesetzmäßigkeiten und Zufällen.08 Was wir vormals als anmutig und schön empfunden hatten, als besondere Atmosphären, zerbröckelt unter der Feststellung, dass alles, was wir sehen, unsere Projektion ist: Wir suchen die Stadt und alles, was wir hören, ist ein Echo unseres Selbst und wir müssen uns fragen: Ist das, was ich sehe, Stadt, oder sehe ich die Stadt nur, weil ich von ihr weiß? Was ist denn eigentlich wirklich? Die Stadt, die uns einst als sicherer Zufluchtsort galt, war in Chaos ohne Sinn und Form zerfallen. […]

01 vgl. JASPERS, Karl: Einführung in die Philosophie, München: Piper 1958, S. 73.

02 CALVINO, Italo: Die unsichtbaren Städte, Frankfurt am Main: Fischer 2013, S. 21. 

03 Der Ausdruck »Steigerung des Nervenlebens« wurde von Georg Simmel geprägt. Vgl. SIMMEL, Georg: »Die Großstädte und das Geistesleben.« In: Georg Simmel. Gesamtausgabe in 24 Bänden. Band 7: Aufsätze und Abhandlungen 1901–1908, Band 1, hrsg. von Rüdiger Kramme, Angela Rammstedt und Otthein Rammstedt, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995, S. 116.

04 Kevin Lynch konzentriert sich vor allem auf »eine besondere visuelle Qualität: auf die Klarheit oder ›Ablesbarkeit‹ der Stadtszene. Damit ist die Leichtigkeit gemeint, mit der ihre einzelnen Teile erkannt und zu einem zusammenhängenden Muster aneinandergefügt werden können.« In: LYNCH, Kevin: Das Bild der Stadt, hrsg. von Ulrich CONRADS, Berlin, Frankfurt am Main, Wien: Ullstein 1965, S. 12.

05 Das liest man bei Thomas Düllo über die Figur des Flaneurs in seinem Aufsatz »Der Flaneur«, in: Moebius, Stephan und Markus Schroer (Hrsg.): Diven, Hacker, Spekulanten. Sozialfiguren der Gegenwart. Berlin: Suhrkamp 2010, S. 122.

06 COLEMAN, Allan Douglass: »Inszenierende Fotografie. Annäherungen an eine Definition« (1976), in: KEMP, Wolfgang (Hrsg.): Theorie der Fotografie III. 1945–1980, München: Schirmer-Mosel 1983, S. 243.

07 CALVINO: Die unsichtbaren Städte.

08 In Anlehnung an JASPERS, Karl: Philosophie II – Existenzerhellung, Berlin: Springer 1973, S. 3, wo er über die Welt schreibt: »Gefühllos, nicht barmherzig und nicht unbarmherzig, einer Gesetzlichkeit unterworfen oder taumelnd im Zufall, weiß sie nicht von sich.« 

Bei Interesse am vollen Text meiner Masterarbeit Mail an hi@johannawarchol.de