Von der kulturellen Nischenfigur zum zeitgenössischen Kreativen – Die Künstlerfigur im Prozess gesellschaftlichen Ästhetisierung

Theoretische Auseinandersetzung mit dem Künstlersubjekt.
Intermediate Project 2014
betreut von Prof. Dr. Oliver Baron

Wir stellen jeden Menschen […] als den Typus Mensch vor, zu dem seine Individualität ihn gehören lässt, […] neben all seiner Singularität, unter einer allgemeinen Kategorie, die ihn freilich nicht völlig deckt und die er nicht völlig deckt. […] Um den Menschen zu erkennen, sehen wir ihn nicht nach seiner reinen Individualität, sondern getragen, erhoben oder auch erniedrigt durch den allgemeinen Typus, unter den wir ihn rechnen.


Georg Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, 1908, in: Georg Simmel: Gesamtausgabe, Band 6. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1. Aufl. 1992, S. 48, zitiert in: Heinz Abels: Identität, Wiesbaden: Springer VS 2010, S. 167.

Einleitung

»Der Lebensstil des Künstlers stellt immer auch eine Herausforderung gegenüber dem des Bürgers dar«, konstatiert Pierre Bourdieu in seiner berühmten Studie Die feinen Unterschiede von 1987 und impliziert damit gleichsam, dass es zu dieser Zeit in der Gesellschaft eine deutliche Distinktion zwischen der Bürgerschicht und dem Künstlermilieu gab: »Der Bürger sehnt sich nach dem Künstler, den er selbst nicht zu werden vermag«. Die kultursoziologische Studie erscheint 1987 zu einer Zeit, in der die Gesellschaft gerade die Hochphase der strukturellen Erweiterung des postmodernen Kunstfeldes erlebte. Andreas Reckwitz schreibt 2012 in seiner Publikation Die Erfindung der Kreativität, dass es in der Gegenwartskultur keine absurdere Vorstellung gäbe, als die eines Menschen, der nicht kreativ sein will. Was sagt uns die Gegenüberstellung dieser beiden Feststellungen und wie passen sie zusammen? Zuerst einmal scheint es seit Bourdieus Zeit eine grundsätzliche Änderung der Vorstellungen von Lebensgestaltung gegeben zu haben. Reckwitz deutet mit seinem Statement die Entwicklung eines von ihm definierten Kreativitätsdispositivs an, der vom Individuum die Ausbildung und Auslebung der Kreativität einfordert. Daraus ergibt sich, dass die zeitgenössische Gesellschaft der Kreativität oder der Fähigkeit zur kreativen Lebensgestaltung einen vollkommen neuen Stellenwert einräumt. Als Folge dessen müssen sich auch Wahrnehmung und Status des Künstlers verändert haben. Diese Neuverkörperung des Künstlers thematisiert die vorliegende Arbeit. Dabei stützt sie sich unter Einbeziehung erweiternder Literatur auf Andreas Reckwitz’ Forschung bezüglich der gesellschaftlichen Ästhetisierung.


Dazu soll zunächst die Figur des Künstlers in der gesellschaftlichen Moderne dargestellt werden und der Zusammenhang mit Transformationsprozessen der städtischen Gesellschaft hergestellt werden. Die Arbeitswelt der zweckrationalen Industriegesellschaft im Zeitraum vor den 1970ern soll beleuchtet werden und die bürgerlichen Lebensideale in dieser Zeit dargelegt werden. Des Weiteren soll die bürgerliche Abneigung gegenüber der Figur des Künstlers und die daraus resultierende Pathologisierung des Künstlersubjekts erläutert werden; diese Sachverhalte sollen durch theoretische Grundlagen der Individualisierung als gesellschaftliches Phänomen ergänzt werden. Auf den Grundlagen der zuvor erläuterten Sachverhalte findet eine Überleitung zur neu entstehenden Figur der zeitgenössischen Kreativen dar. Wie kann eine vormalig mystifizierte und gleichzeitig pathologisierte kulturelle Nischenfigur in die Figur eines ästhetisch-ökonomischen Hybrids umschlagen? Wie kann aus einer primär zweckrational orientierten eine Gesellschaft werden, die die self creation als zentralen Teil der Lebensgestaltung betrachtet? Und zuletzt, wie äußert sich diese Entwicklung in Bezug auf die Gestaltung des privaten Raums von Kreativen? Diese letzten Fragestellungen sollen zunächst vor den Hintergrund der neuen Arbeitswelten gestellt werden; die Lebensgestaltung der Kreativen im privaten Bereich soll dargelegt werden und die Besonderheiten bezüglich Mode und Interieur hervorgehoben werden. Abgeschlossen werden soll diese Kurzdarstellung durch die Beschreibung des neu entstandenen Sozialtypus der super creatives; an dieser Stelle findet eine Überleitung zur Webkonzeption der Internetplattform Freunde von Freunden statt. Anhand der exemplarischen Analyse eines der dort veröffentlichten Künstler:innenportraits soll der zuvor beschriebene Sozialtypus der zeitgenössischen Kreativen veranschaulicht werden. […]

Textauszug aus abschließender »Analyse«

beruhend auf einem Interview mit Axel van Exel, geführt von Tim Seifert am 02.08.2012; online verfügbar auf: http://www.freundevonfreunden.com/interviews/axel-van-exel/#video (17.03.2014).

Axel van Exel ist laut eigener Angabe Architekt und Designer und lebt in Berlin-Neukölln. Gebürtig kommt er aus dem Rheinland und ist 2005 aufgrund eines Jobangebots nach Berlin gezogen. Wie so viele Kreative, die sich von der creative city und »Hipness-Zentrum«01 Berlin den Sprung auf die Karriereleiter erhoffen. Er dementiert dies jedoch ungefragt von vornherein mit den bedeutsamen Worten »Das war keine Hipsterentscheidung«, ganz so, als hätte die Frage Tim Seiferts darauf abgezielt.

Axel lebt mit seinen beiden Mitbewohnern in einem Vierzimmer-Loft in Neukölln. Als für ihn abwechslungsreichste und dynamischste Stadt Deutschlands liefert Berlin ihm die perfekte Grundlage für die kreative Entfaltung seines ebenso dynamischen Selbst. Nach Neukölln ist Axel gezogen, als dort »noch Jogginghosen und Kampfhunde seinen Weg kreuzten«, erzählt er. Tim Seifert fügt hinzu: »Jetzt gibt es nur noch Röhrenjeans und Chucks«. Wieder keine Hipsterentscheidung also?

Der Berliner Stadtteil Neukölln wurde um die Jahrtausendwende von einem Transformationsprozess geprägt, der das ehemalige Einwander:innen- und »Problem«viertel durch den »Zuzug der Alternativszenen«02, die die historische Bausubstanz des Viertels schätzten, »aufwertete«. Die durch die Gentrifizierung steigenden Mieten vertreiben zunächst sozial Benachteiligte aus ihren Wohnungen. Diese erste Phase der Gentrifizierung wird gefolgt von einer »sozialen Aufwertung«03, wie Andreas Reckwitz den Zuzug der Mittelschicht bezeichnet. In der dritten Phase wird die Mittelschicht durch die explodierende Mieten ebenso verdrängt, da die Luxussanierung der Altbauten die obere Mittel- und Oberschicht in das Viertel lockt. Zusätzlich zur Sanierung der Altbauten wird das Stadtbild Neuköllns durch die Einrichtung von Modeläden, Plattenläden und Cafés »ästhetisch aufgewertet«. Diese neuen Orte des ästhetischen Konsums sind genau wie die neu entstehenden Orte der Kulturproduktion04 insbesonders für Kreative attraktiv. Neukölln, als ehemals industriell genutztes Stadtviertel, ist für Kreative deshalb so interessant, weil es dort leerstehende Industriehallen gibt, die zu Ateliers und Lofts umfunktioniert werden können. Axel van Exel trifft im ersten Teil des Interviews mehrere Aussagen, die seine Unterscheidung zum Mainstream deutlich machen sollen. Er unterstreicht, dass er die Entscheidung, nach Neukölln zu ziehen, nicht aufgrund der allgemeinen Beliebtheit des Viertels getroffen hat, sondern dass er den Wert des Viertels vor allen anderen erkannt hat, nämlich zu einer Zeit, als Neukölln mit seinen »Jogginghosen und Kampfhunden« noch ein »Problemviertel« war. Er pocht hier auf den Besitz eines »Geheimwissens«05, welches ihn damals zum Zuzug nach Neukölln bewogen hätte. Zu seinem Unglück gibt es im Berlin der Gegenwart und anderen (ehemaligen) Hipness-Zentren kein Geheimwissen mehr.06 Schuld daran ist vor allem die Digitalisierung: Tobias Rapps Beschreibung des  »[…] alternden Hipsters, der überall dabei war und nun panisch bemerkt, wie der Wert seines Wissens rapide abnimmt, weil ihm die jungen ›Internet-Seeker‹ auf den Fersen sind, die noch mehr wissen als er«,07 scheint hier die Äußerung van Exels recht gut erklärbar zu machen. Van Exels Aussagen beruhen auf der Erkenntnis, dass Hip Sein inzwischen Teil des Selbstverständnisses großer Teile der Gesellschaft geworden ist, sodass der Einzelne zur Betonung der Individualität sein Anderssein durch Abgrenzung von der Konformität der Masse wiederum gültig machen muss. Diese betonte Abweichung von der Konformität oder dem Mainstream – der stetige Versuch der Vielen »den Draht zur Mehrheitsgesellschaft zu kappen«08 – ist jedoch paradoxerweise wiederum ein Schritt in Richtung Konformität. Dies ist der Grund, warum laut Tobias Rapp die Existenzform des Hipsters heute längst überholt ist:

»Wenn jeder alles über jeden wissen kann, dann ist der Hipster eben auch nur ein Tourist«.09 […]

01 vgl. Tobias Rapp: »Hackescher Markt, Trucker-Mütze, Tourist. Der Berliner Hipster in drei Begriffen« 2012, in: Mark Greif/Kathleen Ross/Dayna Tortorici/Heinrich Geiselberger: Hipster. Eine transatlantische Diskussion. Berlin: Suhrkamp 2012, S. 159.

02  Andreas Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität. Vom Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, S.288.

03 ebd. S.289.

04  Janet Merkel „Kreative Milieus“ in Frank Eckardt (Hg.) „Handbuch Stadtsoziologie“, Springer VS, 2011, S.111.

05 vgl. Tobias Rapp 2012, S.1 70.

06 vgl. ebd. S.169.

07 vgl. ebd. S.170.

08 vgl. ebd. S.169.

09 vgl. ebd. S.170.

Bei Interesse am vollen Text Mail an hi@johannawarchol.de