Straßenräumliche Beobachtungen, 2016

Straßen sind nicht nur Transiträume, sondern ebenso Räume des Wohnens, des Arbeitens und des Konsums. Sie sind vor allem Lebensräume. Das Straßenbild generiert sich aus der Interaktion zwischen Mensch und seiner Umgebung. Die Analyse des Straßenbildes bietet deshalb vielfältige Einblicke in die Vorstellung der Menschen von ihrer Lebenswelt und der daraus resultierenden Gestaltung einer Straße.

Das Bachelor Research Proposal beschäftigt sich mit der Straße als Lebens- und Gestaltungsraum und wählt dafür einen situativen Ansatz. Im Wechsel mit Spaziergängen und fotografischen Dokumentationen im Kölner Stadtteil Ehrenfeld werden ausgewählte Straßen unter verschiedenen Gesichtspunkten interpretiert.

Bachelor Research Proposal betreut von Prof. Dr. Carolin Höfler

Buchgestaltung des Bachelor Proposals

Textauszug

Prolog

Ausstieg in der U-bahn-Station Leyendecker Straße. Die bemalten Innenwände der  Gewölbestation erzählen in abstrakter Formsprache und satten Blockfarben die Geschichte Ehrenfelds. Rote Schweine und Schafe jauchzen fröhlich auf grünem Grund, der Mensch bestellt das Land mit einfachem Gerät. Der Krieg bricht über Köln herein und kostet vielen Bewohnern Leben und Heim. Ein Straßengitternetz erstreckt sich symmetrisch und planhaft über die Wand, das rheinische Dreifensterhaus füllt seine Zwischenräume. Der Mensch wendet sich ab von seinen Äckern und marschiert ebenso konformistisch in die rauchenden Fabriken. Sein piktrogrammhaftes Äußeres reproduziert sich und schrumpft, je weiter er sich in Richtung der Schornsteine bewegt. Der einst das Land bebauende Selbstversorger Mensch erscheint vor dem Anblick der schemenhaften Fabriksilhouetten plötzlich klein und unbedeutend, eine Unterscheidung nach Individuen bleibt aus. Hier stoppt die Erzählung und überlässt es dem Besucher zu erkunden, was seit dieser Zeit aus Ehrenfeld geworden ist.

Rhythmisch schleifende Geräusche ertönen von der Rolltreppe, über die man zunächst eine Ebene weiter nach oben befördert wird. Ein Blick zurück verschafft einen letzten Eindruck von den geschwungenen Wänden des unterirdischen Gewölbebaus mit ihren schemenhaften Gestalten, die sich eindrucksvoll auf die wartenden Fahrgäste zuneigen. Eine weitere Rolltreppe führt ins Ebenerdige, stehend nach oben blickend sieht man durch das sich stetig erweiternde Fenster die Fassaden einiger rostroter Backsteinhäuser vor hellblauem Himmel. Das Bild öffnet sich weiter und umschließt die türkischen Läden und Restaurants im Erdgeschoss, und schon steht man auf der Venloer Straße, Ecke Leyendecker Straße. Rauchende Männer stehen vor den gläsernen Türen der Restaurants und unterhalten sich, eine Familie sitzt im Inneren und teilt sich mehrere liebevoll angerichtete Speisen, die Mutter trägt ein Kopftuch. 

Fade wirkende Nachkriegsbauten mit gräulich weißen Außenwänden reihen sich an Backsteinhäuser, unterbrochen von aufwendigen Altbaufassaden in mehr oder weniger gut erhaltenem Zustand. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite sind ein türkischer Friseursalon, eine Änderungsschneiderei, ein italienischer Friseursalon, ein Hundesalon Tür an Tür aneinandergereiht. 

Vorbei geht es an einem persischen Lebensmittelgeschäft, wo die Auslagen in bunter Farbenpracht im Freien präsentiert werden, die Avocados kosten hier nur 1,59€. Zeichen verweben sich auf spannungsvolle Art mit der schmuckhaften Vorkriegsfassade des darüber liegenden Wohnhauses.
Ein italienisches Restaurant bietet auf seiner Außenwerbung was man von ihm erwartet: 

Die Figur von Michelangelos David vor grün-rot-weißem Hintergrund, »Trattoria« in handschriftlich anmutender Typografie, Stühle und Tische laden trotz niedriger Temperaturen zum draußen Sitzen ein. Die angrenzende Einfahrt in der Häuserreihe führt in einen kleinen, fast malerischen Innenhof, an dessen Ende ein weiteres Backsteinhaus und mehrere alte, blattlose Bäume stehen. Weiter die Venloer Straße entlang folgen weitere persische Restaurants, viele von ihnen werben damit, auch vegetarische Speisen anzubieten und sprechen damit auch die Bedürfnisse der jungen, alternativen Bewohnerschaft an. Auf den Außenwänden und -scheiben eines persischen Supermarkts heißt es mehrfach »Persische Spezialitäten«, »Kiosk« oder »Tabakwaren«. […]

Bahnübergang Venloer Straße, Ehrenfeld

Einleitung

Der einleitende erste Abschnitt unseres Spaziergangs durch das Kölner Veedel Ehrenfeld zielt nicht auf eine möglichst detailgetreue Beschreibung der Umgebung ab, sondern vielmehr darauf, was aus der subjektiven Empfindung heraus als »bemerkenswert« erfahren wird. Schon bei dieser zunächst sehr wahllos erscheinenden Beschreibung fällt auf, dass die Wahrnehmung einer Straße sehr individuell ist und die Auswahl des darin Beschriebenen auf persönlichen Vorlieben, Prägungen und Vorwissen beruht. Jedem Menschen, der eine solche Beschreibung anfertigt, würden andere Dinge wichtig und erwähnenswert erscheinen, der Veedelsspaziergang wäre für jede Person ein anderer. Es ist kaum möglich, der Vielzahl an Phänomenen, die in einer großstädtischen Straße wie der Venloer Straße vorliegen, gerecht zu werden, weshalb eine solche Beschreibung gar nicht ohne Aussonderung von vermeintlich Nebensächlichem auskommen kann. 

Urbane Straßen sind räumliche Konstrukte von ungeheurer Komplexität. Architektonische und infrastrukturelle Gegebenheiten bedingen ihre Grundfunktion als Wohn- und Transitraum, die allein schon wegen historischer Kausalitäten für jede Straße spezifisch sind. Vielmehr noch sind Straßen jedoch ebenfalls Lebensräume, die von ihren Bewohnern auch als solche gestaltet und vor allem erlebt werden. Das Vorhandensein von Arbeitsplätzen sowie Orten der Freizeit und des Konsums stellen für jede:n wichtige Bezugspunkte ihres Lebens dar. Die soziale Interaktion in Straßen bietet eine komplexe Mischung aus Fremdheit und Bekanntheit, aus Nichtbeachtung und freundlichem Willkommen. Unterschiedlichste Kulturen und Lebensstile treffen hier zusammen und arrangieren sich miteinander, um trotz der mannigfachen Gegensätze ein harmonisches Zusammenleben zu ermöglichen. Die komplexe gesellschaftliche Konstruktion von Straßen, die sich ebenso auf ihre visuelle Oberfläche auswirkt, lässt damit jede Beschreibung von und theoretische Annäherung an Straßen fragmentarisch und oberflächlich erscheinen. 

Im Hinblick auf künstlerisch-kartographische und wahrnehmungsorientierte Annäherungen an den Straßenraum in der Thesis, die in einem Buch zusammenfließen sollen, beginne ich in diesem Bachelor Proposal damit, einfache Beobachtungen im Straßenraum zu machen und ein grundsätzliches Verständnis der das Straßenbild prägenden Faktoren zu erlangen. Dazu betrachte ich drei Straßenabschnitte Ehrenfelds im Vergleich und unter verschiedenen Themenschwerpunkten. Aufgrund der großen Komplexität straßenräumlicher Phänomene sind die hier unternommenen Beschreibungen als Annäherungen zu verstehen, die fragmentarisch eine Vorstellung eben jener Komplexität vermitteln sollen. Dabei soll die Wechselwirkung der straßenräumlichen Phänomene im Hinblick darauf dargestellt werden, als dass die dadurch erfolgende Prägung der primär visuellen Oberfläche der Stadt verständlich wird. Deshalb kommt es zu einer zunächst thematischen Gliederung; im Wechsel mit Spaziergängen durch Ehrenfelder Straßen und der Unterteilung der Umgebung in psychogeographische Abschnitte, werden im ersten Teil der Arbeit die Beobachtungen zunächst theoretisch begründet, um ein Grundverständnis für die Straße als räumliches und soziales Konstrukt zu erlangen. Da das Straßenbild als sozial konstruiert verstanden werden kann, müssen Faktoren wie die zwischenmenschliche Interaktion, Individualisierung und Differenzierung uvm. bei dieser Annäherung ebenso beachtet werden, wie die Historie der Straße.  […]